«zurück

Was ist aus unseren Träumen geworden?

Diesen Artikel habe ich für die „Welt der Frau“ geschrieben, er ist im März als Titelstory erschienen:

In jungen Jahren haben wir viele Pläne für unser Leben. Manche davon gehen wir direkt an, andere verschieben wir auf später. Und auf später und später. Plötzlich scheint das einst endlos wirkende Leben begrenzt, und wir bemerken, dass wir auf unsere Träume vergessen haben.

Erik ist 17 und kommt soeben aus Bremen zurück, vom Informationstag einer deutschen Fluglinie. Von klein an war er von öffentlichen Verkehrsmitteln fasziniert, deren Krönung Flugzeuge sind. Auf die Frage, wie seine nächsten fünf Jahre aussehen, gibt er eine blitzschnelle und klare Antwort: „Ich maturiere, mache Zivildienst im Ausland und werde Pilot.“ Kinder und Jugendliche brauchen Lebensträume, um ihre Zukunft zu gestalten. Träume treiben sie an, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und auf ein Ziel zuzusteuern. Im Idealfall läuft es so, wie Erik es plant. Das „wirkliche Leben“ allerdings gestaltet sich oft anders. Man verzichtet auf sein Wunschstudium aus Vernunftgründen; man lernt eineN PartnerIn kennen, der/die nicht die gleichen Wünsche hat; das geplante Jahr in Italien verkürzt man auf einen Monat – bestimmte Träume verschieben wir immer wieder auf später, so lange, bis wir gar nicht mehr wissen, dass wir sie geträumt haben. „Das muss noch lange kein Problem sein“, sagt Psychiater Harald Merl, „wir haben schließlich mehrere Träume für mehrere Lebensbereiche. Nicht jeder ist gleich wichtig. So lange jemand ehrlich und aufrichtig von sich sagen kann, dass er zufrieden ist, wird er wohl manche seiner Träume leben. Problematisch wird es erst, wenn der Lebenssinn verloren geht.“

Ob der Lebenssinn verloren gegangen ist, zeigt sich nicht so schnell, wie man vermuten könnte. Meist stecken wir nämlich so richtig fest mitten im Leben: wir sind beruflich engagiert, haben vielleicht Kinder, jonglieren den Alltag, schaukeln unser Sozialleben und kommen immer schneller außer Atem. Zum Nachdenken bleibt keine Zeit. Bis wir dazu gezwungen werden, eines Tages. Dann nämlich, wenn sich die Seele meldet, mit Schlafproblemen, Antriebslosigkeit, innerer Leere oder verschiedenen körperlichen Wehwehchen. Oft bringen auch Krisen dazu, das Leben zu hinterfragen und bei Bedarf gegenzusteuern. Bei Markus, alleinstehend, 50 Jahre, war ein Burnout der Anlass, sich einen Jugendtraum zu erfüllen. Er nahm Reitstunden, kaufte sich ein Jahr später sein eigenes Pferd und gibt heute sogar vereinzelt Reitunterricht. Er arbeitet zwar immer noch in seinem aufreibenden Job, zum Ausgleich schöpft er aber viel Energie aus dem Umgang mit seinem Pferd und den stundenlangen Ausritten.

Entwicklungshelfer
Unerfüllte Wünsche, ungelebte Sehnsüchte oder Konflikte zeigen sich vielen Menschen auch in ihren Tag- und Nachtträumen. Für Schlafforscherin Ortrud Grön sind Träume Entwicklungshelfer. Sie ermöglichen zu erkennen, wo etwas nicht im Einklang ist. Träume speisen sich aus Emotionen und haben mit Sorgen, unerledigten oder unbewältigten Dingen zu tun, die in der Seele weiterarbeiten. Nachtträume rühren an die offenen Wunden des Tages. Dadurch konfrontieren sie uns auf kreative Art immer wieder mit unseren Konflikten. Der amerikanische Pionier in der Schlafforschung William Dement bezeichnet Träume als die „Hüter der Gesundheit“. Träume öffnen Perspektiven, verarbeiten Stress, und bieten Problemlösungen an. Um sich Träume nutzbar zu machen, bedarf es einer Deutung. Träume bedienen sich einer verschlüsselten Sprache und verwirren uns oft mit ihrer Symbolik. Die beste TraumdeuterIn ist aber nicht die Online-Datenbank oder das Traumnachschlagewerk, sondern die oder der Träumende selbst. Nur sie oder er kann die codierten Bilder der Nacht interpretieren, hat einen Bezug zu den Schlüsselszenen und weiß, welche Gefühle damit im Traum verbunden waren. Nicht nur Nachtträume, auch Tagträume sind eine wertvolle Hilfe auf dem Weg zu uns selbst. Wenn wir regelmäßig beobachten, was wir vor uns hinträumen, werden wir viel über die tieferen Wünsche herausfinden.

Deutschlands „Nationalpsychologe“ Stephan Grünewald hat sein neues Buch „Die erschöpfte Gesellschaft“ den Träumen gewidmet, den Lebensträumen ebenso wie den Nachtträumen. Seine Kernaussagen lauten: Wir leben in einer besinnungslosen Betriebsamkeit, Erschöpfung ist der Preis, den eine traumlose Gesellschaft zahlt. Wir brauchen Ideen, wofür wir leben wollen. Und: Träume sind die Voraussetzung für Veränderung und Innovation. Für Markus ist diese Idee sein Pferd. Man muss nicht gleich sein ganzes Leben umkrempeln, um sich besser zu fühlen. Oft haben kleine Schritte eine große Wirkung. Aber dass es Träume für ein gelungenes Leben braucht, darin sind sich Experten einig.

Kraftquellen, Impulsgeber
Dass junge Menschen Träume brauchen, scheint allen einsichtig, und wir motivieren Jugendliche dementsprechend. Bei uns selbst hingegen übersehen wir die wichtigen Funktionen des Träumens und irren allzu oft sinn- und planlos durchs Leben. Dabei bieten Träume auch Erwachsenen Orientierung, sie wecken Kräfte, geben Motivationsschübe und stellen Entwicklungsbilder dar. „Träume sind Visionen von uns selbst“, sagt Merl, „sie zeigen, wer wir sein können und lassen uns mit diesem Bild auch Krisen gut überstehen.“ Wann es Zeit wird oder sogar notwendig ist, sich auf die eigenen Träume zu besinnen, kann nur jede und jeder für sich selbst bestimmen. Wenn das Leben zu stocken scheint, können kleinere oder größere Träume es wieder ins Fließen bringen. Für größere mag Mut notwendig sein. Zuweilen auch Durchsetzungsvermögen. Die eigenen Träume zu leben, kann Angst machen, auf Widerstände stoßen und bringt Unsicherheit. So sicher wie ein vertrautes Hamsterrad ist eine Veränderung jedenfalls nicht, mitunter fürchten wir schmerzliche Erfahrungen. Aber wenn wir unsere Träume nicht leben, so Grünewald, schränken wir uns selbst ein. Und am Ende sei das beschränkte Leben die schmerzlichste Erfahrung. In ihrem Buch „Wenn Körper und Seele streiken, Die Psychosomatik des Alltagslebens“ schreibt die deutsche Soziologin Annelie Keil: „Die Freiheit zu leben besteht im Leben, im Tun und nicht im Unterlassen. Wie das Glitzern des Wassers kann man auch das Glitzern des eigenen Lebens nicht kaufen.“

Was aber, wenn wir gar nicht wissen, wie wir unser Leben zum Glitzern bringen können? Viele Menschen haben im Laufe der Jahre vergessen, wer sie sind und kennen ihre wahren Wünsche nicht mehr. Oft stülpen sie sich fremde Träume über, zum Beispiel jene der Eltern oder des Partners und glauben dabei, ihre eigenen zu leben. Eine Gefahr bergen heute auch die Medien, wie Psychiater Merl meint: „Sie vermitteln einen merkwürdigen Antrieb, der sehr plakativ wirkt. Es werden Lebensmöglichkeiten dargestellt, die fast zwingend wirken.“

Die Ur-Sehnsucht
Nicht alle Träume von früher kann man wieder auferstehen lassen, von manchen müssen wir uns endgültig verabschieden. Entweder passen sie nicht ins jetzige Leben – möglicherweise wollte man einst auf einem Bauernhof in Frankreich leben – oder sie lassen sich schlichtweg nicht mehr erfüllen. Zum Beispiel, wenn körperliche Einschränkungen gewisse Tätigkeiten nicht mehr erlauben. Wenn ein Lebenstraum zerbricht, tut das weh. Pater Anselm Grün betont, dass es wichtig sei, solche Träume zu betrauern. Nicht verleugnen, nicht daran festhalten, sondern durch den Schmerz hindurchgehen – das lässt uns weiterkommen. Auch wenn wir leben konnten, was erträumten, haben aber wir haben dennoch wichtige Erfahrungen gemacht. Und vielleicht gelingt es mit genau diesen Erfahrungen, die Essenz der Lebensträume zu finden. Also zu jenem Kern vorzudringen, der als „Ur-Sehnsucht“ den Traum erst hervorbrachte. Diese Sehnsucht mit der aktuellen Lebensaufgabe zu verbinden, sieht für jeden anders aus. Für Roland, 48, war das stundenlange und leidenschaftliche Indianerspielen in der Kindheit Ausdruck seines Freiheits- und Abenteuerwunsches. Für ihn ist dieses Bedürfnis heute erfüllt, wenn er so oft wie möglich alleine wandert und unbekannte Gegenden erkundet. Seine ältere Schwester Irene hat ebenfalls gerne Indianer gespielt. Für sie steckte in dieser Beschäftigung allerdings etwas anderes, nämlich der Wunsch nach einem wilden, ungekünstelten Leben in der Natur und mit Tieren. Sie hat beschlossen, die Weinviertler Kräuterakademie zu absolvieren und all ihre Freunde mit Heilkräutern zu versorgen.

Es ist also nie zu spät, an Lebensträume anzuschließen, auch wenn sie sich nicht mehr eins zu eins umsetzen lassen. Denn Lebensträume zu realisieren, bedeutet nicht automatisch, etwas aufzugeben oder alles zu verändern. Ja, Lebensträume müssen nicht einmal vollständig erfüllt sein, und schon gar nicht müssen sich alle verwirklichen. Laut Glücksforschern geht es darum, sie anzustreben. Wichtig aber ist, dass wir überhaupt Träume haben und zu wissen, wonach sich unser Herz sehnt. Dann beginnt auch unser Leben wieder zu glitzern.

Zitat:
Stephan Grünewald, Psychologe: „Am Ende ist das beschränkte Leben die schmerzlichste Erfahrung.“

Interview mit Prof. Merl

„Die Sehnsucht muss irgendwo andocken können.“
Ein Gespräch mit Prof. Harald Merl über den „Traum vom gelungenen Selbst“

Herr Professor Merl, Sie wurden letztes Jahr 80 Jahre und sind nach wie vor beruflich sehr aktiv. Leben Sie Ihren Traum?

Ja!

Wie ist Ihr Traum?

Mein Traum ist es, Menschen zu helfen, wieder zu sich zu kommen. Das ist sehr wichtig in einer Welt, in der so viel Entfremdung ist.

Ist es nicht zermürbend und ermüdend, sich immer wieder mit den Nöten von Menschen zu beschäftigen?

Nein! Ich sehe ja nicht den gebrochenen Menschen, ich sehe sein Potential, ich sehe ihn strahlend und in der Lösung. Es wird heute so viel Potential verschwendet, Zeit zum Beispiel oder Fähigkeiten, das macht krank.

Was hält gesund?

Seine Träume zu leben.

Was verstehen Sie unter „Lebenstraum“?

Jeder Mensch hat von Geburt an einen Traum vom gelungenen Selbst; das ist das Bestreben eines Menschen, in seinen eigenen Augen und in denen anderer etwas zu sein und etwas zu können, und zwar in den verschiedensten Lebensbereichen. Das ist wie ein Impuls zu verstehen, der von Anfang an da ist, der uns antreibt und unsere Träume schafft. Je nach Alter und Lebensphase sehen diese Träume anders aus. Sehr wichtige Bereiche sind Familie, Partnerschaft und Beruf.

Das heißt, es gibt nicht den einen und einzigen Lebenstraum, sondern mehrere?

Ja und nein. Der Traum vom gelungenen Selbst ist sozusagen der eine große. Der ist nie konstant erfüllt, sondern sucht immer nach neuer Erfüllung entsprechend den Lebensumständen. In den verschiedenen Lebensphasen sind dann die kleineren Träume zu sehen, die durchaus sehr groß sein können. Ein großer Traum vieler Menschen etwa ist es, Kinder zu haben. Ist dieser Traum erfüllt, wird sich ein neuer auftun.

Was aber ist, wenn sich ein Traum nicht erfüllt?

Das hängt natürlich vom Traum ab. Bei sehr wichtigen Träumen kommt häufig eine Phase der Depression. Aber daraus folgt ein neuer Impuls: wieder anzufangen, etwas Neues zu beginnen. Menschen sind von Natur aus Sieger. Es gibt nicht nur einen Sinn im Leben. Ein Beispiel: Wenn jemand von klein auf unbedingt Pilot werden will, dann aber erfährt, dass er diesen Beruf aufgrund einer körperlichen Einschränkung niemals wird ausüben können, dann wird er nach Alternativen suchen. Vielleicht arbeitet er in der Luftraumüberwachung oder er baut Modellflugzeuge. Die Sehnsucht muss irgendwo andocken können, und dafür muss ich die Gelegenheiten schaffen.

Univ. Prof. Dr. Harald Merl, geb. 1934, verheiratet, fünf Kinder, ist praktischer Arzt und Facharzt für Psychiatrie und Neurologie. Er gründete und leitete das Institut für Psychotherapie im Wagner Jauregg Krankenhaus Linz. Er lehrte an den Universitäten Graz, Salzburg und Linz und hält aktuell noch Vorlesungen an der Universität Wien und Seminare zu seinem „Gesundheitsbild“.

Auf der Suche nach seinen Träumen – Hilfreiche Übungen

Achtsamkeit und Selbstwahrnehmung:
Dazu gibt es eine einfache Übung, die große Wirkung hat, wenn man sie regelmäßig durchführt: sich entspannt hinsetzen, die Augen schließen und beobachten. Was fühlt man, welche Gedanken kommen, welche Personen tauchen auf, welche Situationen erscheinen …?

Eine Vision entwickeln:
Stellen Sie sich vor, in zehn Jahren strahlt ein Fernsehsender einen Beitrag über Ihr bisheriges Lebenswerk aus: was Sie erreicht haben, worauf Sie stolz sind, welche Menschen an Ihrer Seiten waren, welche Ziele Sie erreicht haben und welche Stärken und Talente Ihnen dabei geholfen haben.

Dem inneren Bild folgen:
Um vergessene innere Bilder zu finden, hilft es, sich an Situationen seiner Kindheit zu erinnern: womit hat man stundenlang gespielt, wobei hat man auf alles andere vergessen, was hat man gesammelt etc.? Fragen Sie sich, welche Gefühle und Sehnsüchte damit verbunden waren und was Sie heute damit noch verbinden.

Sich selbst näher kommen:
Wenn Sie noch fünf weitere Leben hätten, was würden Sie in diesen tun?

Schreiben Sie 20 Aktivitäten auf, in die Sie gerne Zeit investieren. Wann haben Sie diese jeweils zuletzt gemacht?

Listen Sie fünf Menschen auf, die Sie bewundern. Fragen Sie sich, warum Sie diese Menschen bewundern und welche Werte, Eigenschaften und Fähigkeiten sie jeweils besitzen, um dieses Leben zu führen.

Wenn Sie jetzt 20 wären, welche fünf Abenteuer würden Sie sofort unternehmen?